22. Dezember: Nora

Nora


“Du musst Nora sein!” Simons Mutter, Andrea, zieht mich in eine Umarmung und zerdrückt beinahe das Geschenk, welches ich ihr gerade überreichen wollte. “Es freut mich, dich kennenzulernen. Ich würde gerne behaupten, dass ich viel von dir gehört habe, aber Simon hat dich ganz für sich behalten.” Sie zieht mich in die warme Wohnung und sieht ihren Sohn mit einem vorwurfsvollen Blick an.

Ich lache, um die Situation weniger merkwürdig zu machen. “Wir kennen uns noch nicht so lange, also wundert es mich nicht, dass er nichts erzählt hat. Danke, dass ich trotzdem hier Weihnachten feiern darf.” Nach dem Weihnachtsbaum suchend betrete ich das Wohnzimmer. “Kann ich das schonmal unter den Baum legen? Es ist nur eine Kleinigkeit, als Dank, dass hier sein darf.” Ich reiche Simons Mutter, das Paket und ihr Gesicht strahlt. 

“Wie aufmerksam! Das hättest du nicht tun müssen.” Sie empfängt das Geschenk und fühlt mit den Händen, als würde sie erraten wollen, was sich darin befindet. “Ich lege es sofort unter den Baum.”

“Die kannst du mir geben, Nora.” Simons Stimme erschreckt mich und ich drehe mich zu ihm um und er deutet auf meine Jacke.

“Ah, danke.” Hastig schlüpfe ich aus der Jacke und reiche sie Simon. “Wo ist deine Schwester? Für sie habe ich ein eigenes Geschenk besorgt, ich hoffe, es ist ihr Geschmack.”

Simon zuckt mit den Schultern. “Sara!”, ruft er die Treppen hoch.

Kurz darauf höre ich schnelle Schritte. “Simon!” Ein Mädchen läuft die Treppe runter und stürzt sich in Simons offene Arme. 

“Da hat mich ja jemand schrecklich vermisst.”

Sara stößt sich von Simon ab und sieht ihn gespielt abfällig an. “Wer hat dich vermisst? Ich sicher nicht.”

Simon lacht und wendet sich zu mir und deutet auf seine Schwester. “Das ist Sara. Sara, das ist Nora.”

“Freut mich, dich kennenzulernen. Ich habe dir etwas mitgebracht.” Kurz krame ich in meinem Rucksack herum und reiche Sara dann ein Päckchen. 

“Wow, danke!” Sara läuft ins Wohnzimmer und wir folgen ihr. 

“Simon, es gibt bald Abendessen. Geh inzwischen dein Zimmer aufräumen, ich will nicht, dass Nora diesen Saustall betreten muss.” Simons Mutter steht in der Küchentür und bindet sich gerade eine Schürze um.

Ich sehe zu Simon und ich spüre wie warm meine Wangen werden. “Eigentlich wollte ich fragen, ob ich im Wohnzimmer schlafen kann …”

Simons Mutter macht eine wegwerfende Bewegung mit der Hand. “So dreckig ist sein Zimmer auch wieder nicht. Es braucht nur einen Feinschliff, das ist alles.”

Hilfesuchend sehe ich Simon an, der den Wink mit dem Zaunpfahl versteht und sich an seine Mutter richtet: “Es geht eher darum, dass ich kein zweites Bett habe.”

Andrea sieht uns verwirrt an. “Wozu braucht ihr ein zweites Bett? Simon, dein Bett ist groß genug. Hannah hat ja auch immer hier geschlafen”

Als Simon antworten will, wird er von einem Piepen unterbrochen und seine Mutter verschwindet in die Küche.

Simon beugt sich zu mir und flüstert mir zu, dass er einfach auf dem Boden liegen kann und ich lehne das Angebot sofort ab. 

“Wenn dein Bett groß genug für zwei Leute ist, dann ist wohl vorgesehen, dass zwei Leute miteinander schlafen können.” Als ich realisiere, was ich gerade gesagt habe, korrigiere ich mich schnell: “Nebeneinander schlafen, natürlich!”

Simon lacht einfach und nickt nur und ich bemerke, dass die spitzen seiner Ohren rosa sind.

“Süß”, flüstere ich.